Lasst Tausende U-Bahn fahren - NZZ
Beim Nahverkehr suchen chinesische Grossstädte ihr Heil im Untergrund
Momentan werden in zahlreichen chinesischen Millionenstädten wie Hangzhou, Suzhou oder Chengdu neue Untergrundbahnen erbaut. Der grösste Teil des öffentlichen Nahverkehrs wird indes weiterhin von mehr oder minder effizienten Bussystemen bewältigt werden.Matthias Daum
Der Shinkansen der staatlichen China Railway High Speed gleitet durch Schanghais zersiedeltes Umland. Kleinfabriken und Manufakturen grenzen an Hochhaus-Wohnsiedlungen, über die Teiche der Fischzuchten schwingen sich unzählige Hochspannungsleitungen. Im Zug herrscht eine ungewohnte Ruhe und Ordnung: kein konstantes Quatschen und Brabbeln, keine sich um etwaige Verbote foutierenden Raucher, keine Dauerberieselung mit Mando-Pop. Kurz nach der Ankunft in Suzhou, bekannt für seine historischen Gärten und die Seidenproduktion, hat einen die Realität des chinesischen öffentlichen Verkehrs wieder: Vollgestopfte Busse bringen den Reisenden vom ausserhalb der Kernstadt gelegenen Bahnhof ins Zentrum. Frühestens 2012 wird eine unterirdische Alternative zu Bus oder Taxi zur Verfügung stehen. Dannzumal soll die zweite Linie der Suzhou-Metro in Betrieb genommen werden. Bereits 2012 wird in der 80 Kilometer von Schanghai entfernten Stadt mit ihren 2,3 Millionen Einwohnern die heute sich im Bau befindende Ost-West-Achse des Untergrundbahn-Netzes eröffnet, die den örtlichen Industriepark mit dem Zentrum verbindet. In ferner Zukunft soll dieses Metrosystem gar an jenes von Schanghai angeschlossen werden – dies schwebt jedenfalls dem Suzhou Urban Planning Bureau vor, wie es in seinem «Traffic Blueprint 2007–2020» schreibt.
Nahverkehr ist FlickwerkWie sämtliche kostenintensiven Grossprojekte des Nahverkehrs ist auch die Verwirklichung dieser Vision vom Placet der zentralen staatlichen Organe in Peking abhängig. Dass in der Hauptstadt keineswegs sämtliche Infrastrukturvorhaben durchgewinkt werden, musste vor einigen Jahren die 180 Kilometer südwestlich von Schanghai gelegene Metropole Hangzhou erfahren. Bereits in den neunziger Jahren begannen die Stadtoberen mit der Metro-Planung, und ein erster Spatenstich fand im September 2003 statt. Aufgrund überbordender Kosten wurde das Projekt von Peking gestoppt. Heute herrscht in der Baugrube vor dem monströsen Bahnhof der 6,5-Millionen-Stadt jedoch wieder ein emsiges Treiben: Ende 2011, nach rund fünf Jahren Bauzeit, soll die Linie 1 der Metro endlich in Betrieb genommen werden. Die Kosten für den Bau dieser Linie werden von der Schanghaier Presse mit 22 Milliarden Yuan (rund 3,6 Milliarden Franken) veranschlagt – finanziert wird der Bau von zentralstaatlichen Stellen, der Munizipalität sowie von ebenfalls staatlich kontrollierten, regionalen Banken. Eine kostengünstigere Alternative zur Metro bildet das in Hangzhou seit 2006 bestehende Bus-Rapid-Transport-System (BRT). Den 18 Meter langen Niederflur-Gelenkbussen einheimischer Provenienz sind auf dem bestehenden Strassennetz separate Spuren zugewiesen, so dass ihr Vorankommen möglichst wenig von den täglichen Staus und Verkehrsüberlastungen tangiert wird. Allerdings finden sich diese Busspuren auf lediglich sieben der zwanzig Kilometer, welche die BRT-Linie 1 misst – zudem ist sie bis dato die einzige BRT-Linie der Stadt. Viel Beachtung wird in städtischen touristischen Zentren, wie etwa rund um den Westsee in Hangzhou, der Fahrgastinformation geschenkt. An stark frequentierten Haltestellen informieren Anzeigetafeln den Fahrgast über die Strecke, die ein Bus bis zur Haltestelle noch zurückzulegen hat – wie vieles bleiben solche Systeme allerdings Flickwerk und werden nicht flächendeckend eingeführt. In den Bussen selbst verkündet eine Frauenstimme: «Please get ready to get off, if this is your stop» – den chinesischen Namen der Haltestelle muss man indes verstanden haben. In der Schanghaier Metro werden alle Stationen auf Chinesisch und Englisch angesagt; auch die Signaletik in den Stationen ist zweisprachig. Ungleich diffiziler gestaltet sich dagegen das Lesen der Busfahrpläne, die nur in chinesischen Zeichen angeschlagen sind. Mit einigen Besonderheiten wartet das «Unterhaltungsangebot» in den öffentlichen Verkehrsmitteln auf. Während in fast allen Bussen ein LCD-Screen eine wilde Mischung aus Werbung, Blödelkomik- und Fernsehnachrichtensendungen zeigt (mit Ton, versteht sich!), liegen in der Schanghaier Metro statt Gratiszeitungen Hochglanzmagazine auf. Allerdings sind diese nur zur Ausleihe gedacht; die lokalen Medien wundern sich leicht empört darüber, dass diese Heftchen immerfort abhandenkommen.
Metro als PrestigeobjektWie gross der Nachholbedarf der chinesischen Megastädte, die allesamt unter dem motorisierten Privatverkehr ächzen, in puncto öffentlicher Nahverkehr ist, zeigt eine Untersuchung der Tongji-Universität Schanghai von 2007. Während in Peking und Schanghai lediglich 4 bzw. 3 Prozent des Verkehrsaufkommens auf der Schiene abgewickelt werden, sind es in London 76 Prozent. Und in der Rushhour benützt nicht einmal ein Drittel der Verkehrsteilnehmer in den erwähnten chinesischen Städten kollektive Verkehrsmittel; in London und New York beträgt dieser Anteil 80 Prozent. Ausschlaggebend ist hierfür die verkehrstechnische Entwicklung in Chinas Städten. Der Bau von Strasseninfrastruktur wurde lange gegenüber dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs prioritär behandelt. Zurzeit wird jedoch in beinahe sämtlichen Grossstädten Chinas, nicht nur in den reichen Provinzen der Ostküste, der Ausbau der Massenverkehrsmittel vorangetrieben. So klaffen auch in Chengdu, der Kapitale der Provinz Sichuan, allenorts Löcher in den Strassen, die von einer Metro künden, deren Eröffnung für das Jahr 2010 anberaumt ist. Das ÖV-Angebot in der 11-Millionen-Stadt ist heute eher rudimentär und basiert auf einem Busnetz, das in den Hauptverkehrszeiten trotz dem Einsatz von Doppelstockbussen beinahe kollabiert – kommt hinzu, dass auch das Taxi-Angebot die Nachfrage nicht zu decken weiss. Ein BRT-System ist in Chengdu erst angedacht. Angesichts der Dominanz des Verkehrsmittels Metro, dem (beinahe) überall die zentrale Rolle beim Ausbau der Infrastruktur für den öffentlichen Verkehr zukommt und in das Unsummen investiert werden, kommt die Vermutung auf, dass dabei vielfach auch Prestigeüberlegungen eine Rolle spielen. Mit einem spektakulären Bauwerk, wie es eine Untergrundbahn ist, lässt sich eher Politik machen als mit einem effizienten (Schnell-)Busnetz oder einer Strassenbahn – das Beispiel von Kunming und dessen BRT-Netz ist die Ausnahme, welche die Regel bestätigt.
Pragmatik beim TicketingBeim Ticketing wird demgegenüber allenorts die effiziente, pragmatische der Eindruck schindenden Lösung vorgezogen. In den Metros und einigen Schnellbuslinien finden Check-in-Check-out-Systeme mit Magnetkarten Anwendung; auch wiederaufladbare, personalisierte Karten (analog der Hongkonger Octopus-Card) sind in Gebrauch. Die Preise sind abhängig von der zurückzulegenden Strecke. In den normalen Buslinien werden Pauschalpreise verrechnet, die sich zwischen 1 und 3 Yuan bewegen, je nach Komfort (sprich Klimatisierung) des Busses. Abgerechnet wird entweder mit einer Magnetkarte oder mit Bargeld: Neben dem Buschauffeur steht ein «Opferstock», in den der abgezählte Fahrpreis einzuwerfen ist. Im Gegensatz dazu herrscht bei den Staatsbahnen noch immer bürokratische Komplexität: Billette können in der Regel maximal fünf Tage im Voraus gekauft werden, pro Station gibt es nur ein fixes Billett-Kontingent für jede Strecke – was mitunter den Erwerb von Retourbilletten betrifft –, und Online-Buchungen sind nicht möglich. Unvermeidliches Resultat dieser Praxis sind die Massenaufläufe in den Schalterhallen der Bahnhöfe, die insbesondere vor Fest- und Freitagen unangenehme Ausmasse annehmen.