Die NZZ im Schutz von Hauptmann Lüthys Mitrailleuren - NZZ
Während des Generalstreiks vor 90 Jahren bewachten Innerschweizer Truppen das NZZ-Gebäude
Am 11. November 1918 notierte Hauptmann Albrik Lüthy, Pelzhändler aus Luzern, in seine Agenda: «Neue Zürcher Zeitung bewachen». Es war an dem Tag, an dem der bis anhin auf Zürich beschränkte Proteststreik sich zum Landesgeneralstreik ausweitete.
Konrad Stamm
Eingeschüchtert von revolutionären Aufrufen zu Streik und Umsturz, verlegte der Zürcher Regierungsrat am 6. November 1918 seinen Amtssitz in die Kaserne und ersuchte den Bundesrat um Truppenschutz. Tags zuvor hatte der jungverlobte Hauptmann Albrik Lüthy, Pelzhändler aus Luzern, in seine Agenda einzig das Wort «Abschied!» geschrieben. Am 6. November notierte er «Einrücken Mitr. Kp. III/9».
Mit dem Einsatz bewaffneter Truppen im Inland lösten die Bundesbehörden den sogenannten «Ordnungsdienst» aus. General Wille übertrug das Kommando der Zürcher Truppen an Oberstdivisionär Sonderegger. Hauptmann Lüthys Kompanie wurde in Malters mobilisiert. Im Tagebuch notierte Lüthy:
«Wir wurden über Rotkreuz nach Altstetten (Zürich) gefahren. Um 01.34 war fertig ausgeladen. Die Kp. hatte noch keinen Befehl, wohin sie marschieren musste. Nach 3/4-stündigem umher telephonieren konnte ich erfahren, dass Ober-Engstringen für heute unser Ziel sei. Füttern und Tränken der Pferde in Altstetten. 02.30 Abmarsch über Schlieren. 04.20 Ankunft in Ober-Engstringen. 04.30 – 09.00 Ruhe.»
Der Rest des Vormittags diente der Ausbildung:
«14.30 Mittagessen. Die Offiziere sind bei ihrer Logisfamilie Dir. Wegelin im Schloss zum Essen eingeladen. 17.00 Antreten der Kp. zum Verlesen der Kriegsartikel. Bat.-Rapport im Kloster Fahr. 19.00 Hauptverlesen. Ansprache des Kp.-Kdt. über Zweck und Anforderungen des gegenwärtigen Dienstes.»
«Die Kaserne Zürich ganz voll Truppen»
Divisionär Sonderegger hatte vom General einen sehr detaillierten Auftrag erhalten, in dem es hiess, die Anwesenheit von Truppen in Zürich müsse sich der ganzen Bevölkerung ins Bewusstsein prägen: «Lassen Sie daher Ihre Truppen durch die Stadt ziehen, und auf eine Art, die imponiert. Packen Sie die Kaserne Zürich ganz voll Truppen.» Sonderegger, als draufgängerischer Offizier bekannt, nahm die Zügel sofort straff in die Hand. Im Tagebuch Lüthys fand das folgenden Niederschlag:
«02.20 Tagwache. 03.30 Abmarsch in die Versammlung des Bataillons beim Westeingang Höngg. Eindrücklicher Einmarsch nach Zürich im Regimentsverband. 06.50 im Hofe der alten Kantonsschule an der Rämistrasse.»
Zu Beginn des Ordnungsdienstes betrug die Truppenstärke in Zürich, gleich wie im ebenfalls militärisch besetzten Bern, etwas über 8000 Mann; drei Tage später waren es weit über 20 000. Das Oltner Aktionskomitee plante einen zeitlich auf Samstag, den 9. November, befristeten Proteststreik in 19 grösseren Industrieorten der Schweiz, doch für die Zürcher Arbeiterunion stand von Anfang an fest, dass der Streik unbefristet weitergeführt werde. Am 9. November lautet der Eintrag in Lüthys persönlicher Agenda: «Räumung des Paradeplatzes». Dort hatte sich am Vormittag eine grössere Menschenmenge versammelt und den Trambetrieb zum Erliegen gebracht. Ein Detachement Kavallerie vermochte die Lage nicht unter Kontrolle zu halten. Die zur Verstärkung anrückende Infanteriekompanie von Hauptmann Lüthy gab ein gutes Dutzend Schüsse ab, ohne jedoch jemanden zu treffen.
Der Generalstreik wird proklamiert
Ein dramatischerer Truppeneinsatz verbirgt sich hinter dem Agenda-Eintrag «Fraumünsterpl.» vom 10. November: Sonderegger hatte die Feier zum Jahrestag der russischen Revolution verboten. Trotzdem fanden sich etwa 7000 Personen beim Fraumünster ein, worauf Sonderegger den Münsterhof gewaltsam räumen liess. Die Truppe schoss in die Luft oder gegen den Boden. Es gab Verletzte, und ein Soldat wurde (angeblich durch den Schuss aus einem Browning-Revolver, nicht durch Armeemunition) tödlich getroffen. Die Lage in Zürich drohte zu eskalieren. Das Oltner Komitee, das die Initiative an die militanten Zürcher Arbeiter zu verlieren fürchtete, proklamierte nun doch den Generalstreik. Die bürgerlichen Zeitungen wurden durch den Streik lahmgelegt; die sozialistischen Blätter vermittelten ein völlig einseitiges Bild der Situation in Zürich.
Am 11. November bemühte sich Sonderegger selber um die Herausgabe eines bürgerlich gesinnten Blattes, indem er die nichtsozialistischen Redaktionen zur Zusammenarbeit anhielt. Die NZZ «entschloss sich schweren Herzens, ihr schönes Haus daran zu wagen», wie Sonderegger später in einem Bericht schrieb. Er stellte Truppen zur Verfügung, die das NZZ-Gebäude an der Falkenstrasse bewachten. So kam Pelzhändler Albrik Lüthy aus Luzern zum Auftrag, mit seiner Kompanie das Erscheinen der Notzeitung «Bürgerliche Presse Zürichs» sicherzustellen. Er tat dies offenbar erfolgreich: Drei Tage lang erschien das nur zwei Seiten umfassende, für 10 Rappen verkaufte Blatt in einer Auflage von 50 000 Exemplaren. NZZ-Chefredaktor Albert Meyer rapportierte dem Verwaltungsratspräsidenten Paul Usteri per Telegramm: «Starker militärischer Schutz. Ordnung nicht gestört.»
Das «Volksrecht» wird besetzt
Inzwischen ging Sonderegger mit harter Hand vor. Am 14. November kam Hauptmann Lüthy mit seiner Kompanie nochmals zu einem spektakulären Einsatz, als auf Befehl des Divisionärs die Räume des sozialistischen «Volksrechts» militärisch besetzt wurden. Die konsequente Haltung trug Früchte: In der Nacht auf den 15. November beschloss das Aktionskomitee den Abbruch des Landesstreiks. Zwei Tage später wurde Hauptmann Lüthy von der Grippewelle erfasst, die in jenen Tagen die Schweiz heimsuchte und zahlreiche Todesfälle verursachte. Am 19. November vermerkt er in der Agenda lakonisch «schwitzen». Am 21. wurde das Bataillon, dem seine Mitrailleurkompanie angehörte, aus Zürich abgezogen. Lüthy erreichte später den militärischen Rang eines Obersten. In seiner Heimatstadt wurde er ebenso bekannt als Präsident des Fussballklubs Luzern.
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Der Verfasser des Beitrags ist Publizist und früherer Mitarbeiter der NZZ-Chefredaktion. Das Quellenmaterial, stammt aus dem Privatarchiv von Albrik Lüthys Familie.