Vor 90 Jahren begann der Generalstreik in der Schweiz

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Vor 90 Jahren begann der Generalstreik in der Schweiz

Beitragvon zuyox am Di Nov 11, 2008 2:39 pm

Die NZZ im Schutz von Hauptmann Lüthys Mitrailleuren - NZZ
Während des Generalstreiks vor 90 Jahren bewachten Innerschweizer Truppen das NZZ-Gebäude
Am 11. November 1918 notierte Hauptmann Albrik Lüthy, Pelzhändler aus Luzern, in seine Agenda: «Neue Zürcher Zeitung bewachen». Es war an dem Tag, an dem der bis anhin auf Zürich beschränkte Proteststreik sich zum Landesgeneralstreik ausweitete.


Konrad Stamm
Eingeschüchtert von revolutionären Aufrufen zu Streik und Umsturz, verlegte der Zürcher Regierungsrat am 6. November 1918 seinen Amtssitz in die Kaserne und ersuchte den Bundesrat um Truppenschutz. Tags zuvor hatte der jungverlobte Hauptmann Albrik Lüthy, Pelzhändler aus Luzern, in seine Agenda einzig das Wort «Abschied!» geschrieben. Am 6. November notierte er «Einrücken Mitr. Kp. III/9».

Mit dem Einsatz bewaffneter Truppen im Inland lösten die Bundesbehörden den sogenannten «Ordnungsdienst» aus. General Wille übertrug das Kommando der Zürcher Truppen an Oberstdivisionär Sonderegger. Hauptmann Lüthys Kompanie wurde in Malters mobilisiert. Im Tagebuch notierte Lüthy:

«Wir wurden über Rotkreuz nach Altstetten (Zürich) gefahren. Um 01.34 war fertig ausgeladen. Die Kp. hatte noch keinen Befehl, wohin sie marschieren musste. Nach 3/4-stündigem umher telephonieren konnte ich erfahren, dass Ober-Engstringen für heute unser Ziel sei. Füttern und Tränken der Pferde in Altstetten. 02.30 Abmarsch über Schlieren. 04.20 Ankunft in Ober-Engstringen. 04.30 – 09.00 Ruhe.»

Der Rest des Vormittags diente der Ausbildung:

«14.30 Mittagessen. Die Offiziere sind bei ihrer Logisfamilie Dir. Wegelin im Schloss zum Essen eingeladen. 17.00 Antreten der Kp. zum Verlesen der Kriegsartikel. Bat.-Rapport im Kloster Fahr. 19.00 Hauptverlesen. Ansprache des Kp.-Kdt. über Zweck und Anforderungen des gegenwärtigen Dienstes.»

«Die Kaserne Zürich ganz voll Truppen»
Divisionär Sonderegger hatte vom General einen sehr detaillierten Auftrag erhalten, in dem es hiess, die Anwesenheit von Truppen in Zürich müsse sich der ganzen Bevölkerung ins Bewusstsein prägen: «Lassen Sie daher Ihre Truppen durch die Stadt ziehen, und auf eine Art, die imponiert. Packen Sie die Kaserne Zürich ganz voll Truppen.» Sonderegger, als draufgängerischer Offizier bekannt, nahm die Zügel sofort straff in die Hand. Im Tagebuch Lüthys fand das folgenden Niederschlag:

«02.20 Tagwache. 03.30 Abmarsch in die Versammlung des Bataillons beim Westeingang Höngg. Eindrücklicher Einmarsch nach Zürich im Regimentsverband. 06.50 im Hofe der alten Kantonsschule an der Rämistrasse.»

Zu Beginn des Ordnungsdienstes betrug die Truppenstärke in Zürich, gleich wie im ebenfalls militärisch besetzten Bern, etwas über 8000 Mann; drei Tage später waren es weit über 20 000. Das Oltner Aktionskomitee plante einen zeitlich auf Samstag, den 9. November, befristeten Proteststreik in 19 grösseren Industrieorten der Schweiz, doch für die Zürcher Arbeiterunion stand von Anfang an fest, dass der Streik unbefristet weitergeführt werde. Am 9. November lautet der Eintrag in Lüthys persönlicher Agenda: «Räumung des Paradeplatzes». Dort hatte sich am Vormittag eine grössere Menschenmenge versammelt und den Trambetrieb zum Erliegen gebracht. Ein Detachement Kavallerie vermochte die Lage nicht unter Kontrolle zu halten. Die zur Verstärkung anrückende Infanteriekompanie von Hauptmann Lüthy gab ein gutes Dutzend Schüsse ab, ohne jedoch jemanden zu treffen.
Der Generalstreik wird proklamiert

Ein dramatischerer Truppeneinsatz verbirgt sich hinter dem Agenda-Eintrag «Fraumünsterpl.» vom 10. November: Sonderegger hatte die Feier zum Jahrestag der russischen Revolution verboten. Trotzdem fanden sich etwa 7000 Personen beim Fraumünster ein, worauf Sonderegger den Münsterhof gewaltsam räumen liess. Die Truppe schoss in die Luft oder gegen den Boden. Es gab Verletzte, und ein Soldat wurde (angeblich durch den Schuss aus einem Browning-Revolver, nicht durch Armeemunition) tödlich getroffen. Die Lage in Zürich drohte zu eskalieren. Das Oltner Komitee, das die Initiative an die militanten Zürcher Arbeiter zu verlieren fürchtete, proklamierte nun doch den Generalstreik. Die bürgerlichen Zeitungen wurden durch den Streik lahmgelegt; die sozialistischen Blätter vermittelten ein völlig einseitiges Bild der Situation in Zürich.

Am 11. November bemühte sich Sonderegger selber um die Herausgabe eines bürgerlich gesinnten Blattes, indem er die nichtsozialistischen Redaktionen zur Zusammenarbeit anhielt. Die NZZ «entschloss sich schweren Herzens, ihr schönes Haus daran zu wagen», wie Sonderegger später in einem Bericht schrieb. Er stellte Truppen zur Verfügung, die das NZZ-Gebäude an der Falkenstrasse bewachten. So kam Pelzhändler Albrik Lüthy aus Luzern zum Auftrag, mit seiner Kompanie das Erscheinen der Notzeitung «Bürgerliche Presse Zürichs» sicherzustellen. Er tat dies offenbar erfolgreich: Drei Tage lang erschien das nur zwei Seiten umfassende, für 10 Rappen verkaufte Blatt in einer Auflage von 50 000 Exemplaren. NZZ-Chefredaktor Albert Meyer rapportierte dem Verwaltungsratspräsidenten Paul Usteri per Telegramm: «Starker militärischer Schutz. Ordnung nicht gestört.»

Das «Volksrecht» wird besetzt
Inzwischen ging Sonderegger mit harter Hand vor. Am 14. November kam Hauptmann Lüthy mit seiner Kompanie nochmals zu einem spektakulären Einsatz, als auf Befehl des Divisionärs die Räume des sozialistischen «Volksrechts» militärisch besetzt wurden. Die konsequente Haltung trug Früchte: In der Nacht auf den 15. November beschloss das Aktionskomitee den Abbruch des Landesstreiks. Zwei Tage später wurde Hauptmann Lüthy von der Grippewelle erfasst, die in jenen Tagen die Schweiz heimsuchte und zahlreiche Todesfälle verursachte. Am 19. November vermerkt er in der Agenda lakonisch «schwitzen». Am 21. wurde das Bataillon, dem seine Mitrailleurkompanie angehörte, aus Zürich abgezogen. Lüthy erreichte später den militärischen Rang eines Obersten. In seiner Heimatstadt wurde er ebenso bekannt als Präsident des Fussballklubs Luzern.

((info-box))
Der Verfasser des Beitrags ist Publizist und früherer Mitarbeiter der NZZ-Chefredaktion. Das Quellenmaterial, stammt aus dem Privatarchiv von Albrik Lüthys Familie.
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Re: Vor 90 Jahren begann der Generalstreik in der Schweiz

Beitragvon zuyox am Di Nov 11, 2008 2:47 pm

Bürgerliche Presse Zürich - NZZ
Landesstreik 1918
Im November 1918 erschüttert der von der Sozialdemokratie angeführte Landesstreik die Schweiz. Der Bundesrat reagiert auf die von linker Seite vorgebrachten Forderungen mit einem Truppenaufgebot. In Zürich patrouillieren Kavallerie-Einheiten in den Strassen und vor wichtigen Gebäuden sind militärische Wachen aufgezogen. Bestreikt wird auch - wie die aller Zeitungen ausser dem sozialdemokratischen «Volksrecht» - die Druckerei der NZZ. Bei einer Abstimmung entscheiden sich die NZZ-Typografen mit 32 zu 6 Stimmen für die Teilnahme am Streik. Während der Dauer des Landesstreiks erscheint deshalb nur ein von Freiwilligen produziertes, wenige Seiten umfassendes Blatt als eine Art Notzeitung unter dem Namen «Bürgerliche Zeitung Zürich». Die erste Nummer erscheint am 11. November (dem Tag des Waffenstillstandes am Ende des Ersten Weltkrieges – ein Ereignis, das wegen der besonderen Umstände im Blatt nur am Rande wahrgenommen wird) und die letzte am 16. November. Danach wird bei der NZZ wieder der normale Betrieb aufgenommen.

In diesen Tagen im November 1918 kommen eine ganze Reihe von Faktoren zusammen, welche das Krisenempfinden ausserordentlich steigern: Die Umstände des militärischen Zusammenbruchs der Mittelmächte, die Abdankung des deutschen Kaisers, die Revolution in Deutschland, die Nachrichten vom Terror der Bolschewiken in Russland, und schliesslich auch noch die grosse weltweite Grippe-Epidemie (der in diesen Wochen auch in der Schweiz Tausende zum Opfer fallen), vor allem aber die Eskalation der sozialen Spannungen in der Schweiz selber führen dazu, dass das Unsicherheitsgefühl und die Angst vor Umsturz und Chaos weit verbreitet ist.

Wie extrem gespannt die innenpolitische Lage ist, zeigt eine Verlautbarung des Kommandanten der Truppen in Zürich. Dieser lässt am 11. November verkünden, dass seine Truppen mit Handgranaten ausgerüstet seien und den Befehl hätten, diese auch zu gebrauchen, wenn aus Fenstern und Kellerlöchern geschossen würde. Am 12. November berichtet die «Bürgerliche Zeitung Zürichs» davon, dass bei einer Demonstration von Streikenden auf dem Münsterhof es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit einem Zug Infanterie der Armee gekommen ist. Bei einer Schiesserei dort gibt es einen Schwerverletzten. Anschliessend esetzt eine Kavallerie-Abteilung den Platz.

In der Ausgabe vom 14. November wird in einem redaktionellen Kommentar ein düsterer, geradezu apokalyptischer Ton angeschlagen. Bei vielen Bürgern herrsche noch immer Unklarheit über die Tragweite und die Ursachen der Streikbewegung. Die Sozialdemokratie halte heute den Augenblick für gekommen, um mit Gewalt die politische Macht im Kanton Zürich und in der Eidgenossenschaft an sich zu reissen. Dann macht der Kommentator auf die internationalen Zusammenhänge aufmerksam: «Wie sie diese Macht auszuüben gewillt ist, zeigt uns eine Meldung vom 11. November aus Berlin. Dort haben die unabhängigen Sozialdemokraten ihren Eintritt in die neue Reichsregierung von der Bedingung abhängig gemacht, dass das Ministerium ausschliesslich aus Sozialdemokraten gebildet werde. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass auch in der Schweiz Gleiches beabsichtigt ist.»
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Re: Vor 90 Jahren begann der Generalstreik in der Schweiz

Beitragvon zuyox am Di Nov 11, 2008 2:52 pm

Um was es geht

* In weiten Kreisen der Bürgerschaft herrscht heute noch völlige Unklarheit über die Tragweite und die Ursachen der gegenwärtigen Streikbewegung. Wohl sieht man die Dragonerpatrouillen durch die Strassen Zürichs reiten; vor allen wichtigeren Gebäuden stehen Wachen mit Sturmhelm und geladenem Gewehr, und die letzten Bekanntmachungen des Platzkommandos, wonach Widersetzlichkeit und Angriffe auf die Truppe sofort mit Kugeln und Handgranaten beantwortet werden sollen, haben jedem zum Bewusstsein gebracht, dass es heute Ernst gilt. Aber immer glauben noch Tausende, es handle sich lediglich um die Unterdrückung der leider im Lauf der letzten Jahre zur unvermeidlichen Begleiterscheinung aller grösseren Arbeitskämpfe gewordenen Ausschreitungen gegen Personen und Privateigentum. Und doch zeigt schon die Tonart der sozialdemokratischen Presse in den jüngsten Tagen, dass es heute um etwas ganz anderes geht als um Lohnerhöhung und Verkürzung der Arbeitszeit. Das sagt auch das «Volksrecht» Nr. 263 vom 11. November ganz unumwunden; es heisst da:

«Wir stehen wieder einmal an einem Wendepunkt in der Geschichte der schweizerischen Demokratie, an einem Wendepunkt, dessen Bedeutung nicht hinter derjenigen des Jahres 1830 oder des Jahres 1848 zurücksteht. Es handelt sich um einen Wendepunkt, wie er nur ein- oder zweimal im Verlaufe eines Jahrhunderts eintritt. Diesmal steht – zum ersten Mal in der Geschichte – die Arbeiterschaft, der vierte Stand, als einzige vorwärtstreibende Kraft im grossen Strom der Ereignisse und der politischen Erneuerung. Zeigen wir uns dieser historischen Stunde würdig!»

Diese Ausführungen beweisen deutlich, dass die Sozialdemokratie heute den Augenblick für gekommen hält, um mit Gewalt die politische Macht im Kanton Zürich und in der Eidgenossenschaft an sich zu reissen. Wie sie diese Macht auszuüben gewillt ist, zeigt uns eine Meldung vom 11. Nov. aus Berlin. Dort haben die unabhängigen Sozialdemokraten ihren Eintritt in die neue Reichsregierung von der Bedingung abhängig gemacht, dass das Ministerium ausschliesslich aus Sozialdemokraten gebildet werde. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass auch in der Schweiz Gleiches beabsichtigt ist. Die Sozialdemokratie, die noch bei den letzten Wahlen kaum einen Fünftel aller stimmfähigen Schweizerbürger an die Urnen zu bringen vermochte, möchte dem Lande mit Gewalt ihre Herrschaft aufzwingen. Wie es unter dieser Herrschaft zuginge, wenn die Platten, Herzog, Rosa Bloch und Angelika Balabanoff ans Ruder gelangten, das zeigen uns die Ereignisse des letzten Jahres in Russland und der verflossenen 14 Tage in Österreich-Ungarn und Deutschland mit erschreckender Deutlichkeit. Zu den ersten «Amtshandlungen» der Arbeiter- und Soldatenräte von Wien, Kiel, Hamburg und Hannover gehörte die Öffnung aller Gefängnisse und Zuchthäuser, aus denen Brandstifter, Strassenräuber, Lustmörder und Taschendiebe zusammen mit politischen Verbrechern unterschiedslos auf die Bürgerschaft losgelassen wurden. Aus diesen «Stützen» der sozialistischen Gesellschaft haben Lenin und Trotzky ihre persönliche Schutzwache und die Requisitionstruppen gebildet, mit denen sie die russischen Dörfer durchziehen, um die Bauern bis auf das letzte Brot und Hemd auszurauben. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass in unserem Schweizerlande ähnliche Zustände einreissen würden, wenn die Leiter der «Internationalen revolutionären Sozialistengruppe» auch nur drei Wochen das Heft in den Händen hätten. Vermutlich würde die Notlage aber bei uns noch viel furchtbarer, weil die Schweiz ungleich dichter als Russland bevölkert ist und weil ihre Bevölkerung höchstens zu 25 Prozent statt wie dort zu 90 Prozent aus Bauern besteht. Es geht also nicht bloss um die Staatsform, sondern geradezu um den Fortbestand unseres Volkes. Es geht um das nackte Leben.

Nr. 4 vom 14. November 1918
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Re: Vor 90 Jahren begann der Generalstreik in der Schweiz

Beitragvon zuyox am Di Nov 11, 2008 2:58 pm

Eine Machtprobe und ihre Deutungen - NZZ
Der Landesstreik vom November 1918
Vor 90 Jahren scheiterte der Versuch der Linken, mit einem Landesstreik auch politische Ziele zu erreichen, an der militärisch untermauerten Reaktion des Bundesrats. Der Konfrontation und dem bürgerlichen Schulterschluss folgte eine gegenseitige Annäherung.


Von Georg Kreis*
Stellte man eine Liste der Kontroversen zur Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts zusammen, der Landesstreik von 1918 müsste weit oben figurieren. Dieser historische Schlüsselmoment war zwar auch schon präsenter im gemeinsamen Bewusstsein, als er heute ist. Die Erinnerungsgeschichte zu diesem Grossereignis – einer enormen Machtprobe zwischen links und rechts – könnte ein Beispiel für das wiederkehrende Phänomen der Abkühlung ursprünglich heisser Geschichte sein. Der Vorgang wurde im Zehn-Jahres-Takt in Erinnerung gerufen und scheint erst in jüngster Zeit zu einer rein historischen Begebenheit – wie viele andere – geworden zu sein und darum kaum mehr zum gemeinsamen Wissensgut zu gehören.

Eskalation und Rückzug
Was war denn der Vorgang? Das aus SPS- und Gewerkschaftsvertretungen zusammengesetzte «Oltner Aktionskomitee» rief am 11. November 1918 einen unbefristeten Landesgeneralstreik aus. Zuvor hatte die Zürcher Arbeiterunion eigenmächtig beschlossen, den auf 24 Stunden befristeten Proteststreik vom 9. November fortzuführen. Der Proteststreik war seinerseits die Folge eines massiven Truppenaufgebots, das im Hinblick auf erwartete Unruhen erlassen worden war. Und diesem Ordnungsdienst wiederum waren politische Manifestationen vorausgegangen, die eine Zuspitzung der Verhältnisse bis zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen befürchten liessen. Zentrum war Zürich. Der Streik vermochte da und dort Betriebe lahmzulegen, rund 240 000 Arbeiter folgten dem Aufruf, etwa zwei Drittel der Industriearbeiter ignorierten jedoch den Appell. Besonders schlecht war die Beteiligung in der französischen Schweiz. Der vom Parlament in einer ausserordentlichen Session unterstützte Bundesrat forderte am 13. November ultimativ den Streikabbruch. Bereits wenige Stunden später kam die Streikleitung dem Ultimatum nach.

Über die Ziele des Streiks und seine Bedeutung gingen die Meinungen in der Zeit selbst wie auch Jahrzehnte später stark auseinander. Einerseits wollte man die höchst prekäre soziale Lage verbessern (Sicherung der Lebensmittelversorgung, 48-Stunden-Woche). Anderseits wollte man auch einen grundsätzlichen Umbau der Gesellschaft im Sinne eines sozialistischen Staatsdirigismus (allgemeine Arbeitsdienstpflicht, Staatsmonopol für den Aussenhandel, Tilgung aller Staatsschulden durch die Besitzenden). Hinzu kamen systemkonforme Reformpostulate (Einführung des Frauenstimmrechts, Schaffung der AHV, schnelle Einführung des Proporzwahlrechts).

Der Streik hatte zweifellos politischen Charakter. Es ging aber nicht darum, mit einem Putsch nach der Macht zu greifen. Die Streikleitung probte den Aufstand, sie wollte mit einem positiv ausgehenden Kräftemessen ihre Verhandlungsmacht aufwerten und ausserhalb der üblichen demokratischen Mechanismen zu Resultaten kommen. Unklar war freilich, wo das enden würde. Die russische Revolution im Vorjahr und die gleichzeitigen Revolutionsbewegungen, besonders in Deutschland, bildeten den Hintergrund, der auf der Streikseite beflügelnd wirkte und die Gegenseite das Schlimmste befürchten liess.

Respekt vor dem Verlierer
Angesichts des äusserlich eindeutigen Verlaufs scheint es müssig, sich zu fragen, wer Sieger war. Indessen zeigte der weitere Politikverlauf, dass sich die Besiegten mit dem Streik doch Respekt verschafft hatten und die Sieger diesen Respekt auch ihrerseits aufbrachten. Die weitere Entwicklung weichte die vorübergehend verhärtete Polarisierung wieder etwas auf, sie liess in beiden Lagern unterschiedliche Tendenzen entstehen, radikale Flügel (Kommunisten beziehungsweise Frontisten und den Vaterländischen Verband) und moderatere Kräfte der Mitte. Die Linke war fortan auch formell – in die Sozialdemokratische und die Kommunistische Partei – gespalten, sie lieferte sich zunächst heftige Konkurrenzkämpfe, ging aber in den 1930er Jahren da und dort volksfrontähnliche Kooperationen ein.

Auf der «Verliererseite» stand als wichtiger Ertrag des Einsatzes von 1918 die anhaltende Möglichkeit des Gedenkens zur Verfügung. Zehn Jahre später, 1928, begingen die ehemaligen Streikführer ein «Streikjubiläum» – zur hellen Empörung der Bürgerlichen, die darin – zu Unrecht – ein Gutheissen der «Gewalt als Allerheilmittel» und den Beweis dafür erblickten, dass das sozialdemokratische Bekenntnis zur Demokratie nur ein momentanes, opportunistisches Einschwenken sei. Die bürgerliche Seite versäumte es aber, wie die NZZ kritisch bemerkte, den historischen Vorgang zu einem eigenen, freudig begangenen Erinnerungsmoment im Sinne einer «glücklich überstandenen Krise» zu machen.

Jahrzehnte der Annäherung
Die weiteren «Jubiläen» zeigen, wie sehr solches Gedenken von den jeweiligen Zeitumständen geprägt ist. 1938 – man war angesichts der äusseren Bedrohung auf dem Weg zum nationalen Burgfrieden – wurden die Sozialdemokraten in zurückhaltenden Worten an die Tage des «Novembersturms» erinnert. Die Generalstreikpartei habe umdenken müssen, sie laviere aber immer noch und sitze rittlings auf der Scheidewand zwischen marxistischem Internationalismus und Schweizertum. Betont wurde auch, wie sehr der schweizerische Staat gegen innen wie gegen aussen von der Stärke der Armee abhänge.

1948 verwahrte sich die bürgerliche Presse gegen die verharmlosende Gleichsetzung von 1918 mit dem jetzt (mit der Einführung der AHV 1947) allgemein akzeptierten «sozialen Reformismus». Zugleich registrierte man mit Genugtuung, wie sich sozialdemokratische Stimmen von volksdemokratischen Regimen des Ostens distanzierten und die Niederlage von 1918 sogar als Voraussetzung für die demokratische Entwicklung der schweizerischen Sozialdemokratie werteten. 1958 taucht in der Pressewelt keine nennenswerte Jubiläumsmanifestation auf – das Folgejahr sollte der Schweiz die Zauberformel bringen, mit Doppelvertretung der Sozialdemokraten im Bundesrat.

1968 war die Auseinandersetzung mit dem Landesstreik besonders intensiv, wegen des 50-Jahr-Jubiläums, aber auch wegen der Aufbruchstimmung jenes Jahres. Die verschiedenen Äusserungen lassen vermuten, dass es damals zu einer Konvergenz der Standpunkte gekommen ist. Nationalrat Hermann Leuenberger, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, würdigte die Darstellung seines früheren freisinnigen Ratskollegen Hermann Häberlin, der seinerseits eingeräumt hatte, dass die Wahrheit in der Mitte zwischen den beiden Kampfpositionen liege. – Die zum Jubiläum publizierten Bücher von Paul Schmid-Ammann und Willi Gautschi trugen Wesentliches dazu bei, dass man die Ereignisse nun differenzierter beurteilen konnte. Dies schloss freilich nicht aus, dass weiterhin die Akzente unterschiedlich gesetzt wurden: Einerseits wurde an der Oltner Feier, an der die beiden SP-Bundesräte Hans Peter Tschudi und Willy Spühler teilnahmen, die frühere «Klassenpolitik» der Landesregierung kritisiert; anderseits deutete Willy Bretscher, ehemaliger Chefredaktor der NZZ, den Landesstreik als Folge einer schweren Krise der sozialistischen Bewegung.

Der Zehn-Jahres-Rhythmus wurde weiterhin eingehalten: 1978 mit einer Feier, an der auch der populäre Bundespräsident Willi Ritschard teilnahm und der Schriftsteller Adolf Muschg als Hauptredner auftrat. Muschg bezeichnete den Streikabbruch als «teuersten Loyalitätsbeweis» und warf den Bürgerlichen vor, in den Linken immer nur «Demokraten auf Bewährung» zu erblicken. 1998 wurde das Gedenken an den Landesstreik mit dem 150-Jahr-Jubiläum des Bundesstaates verknüpft. Hans-Ulrich Jost (Universität Lausanne) bewertete «1918» als negatives Pendant zum Wendepunkt von 1848. Damals hätten sich die progressiven Kräfte durchgesetzt, 1918 sei dagegen der Fortschritt abgeblockt worden.

Zehn Jahre zuvor hatte Markus Hodel (Universität Freiburg) bereits den Bogen zu 1848 geschlagen, indem er erklärte, dass die Katholisch-Konservativen 1918 die Gelegenheit wahrgenommen hätten, den Sonderbunds-Makel von 1847 zu beseitigen und sich als zuverlässige Patrioten zu erweisen. Sie wurden mit einem zweiten Bundesratssitz belohnt. Pikanterweise drängten sie die «russlandhörige» Arbeiterschaft in das Ghetto der Vaterlandsfeinde, in dem sie sich zuvor wegen ihrer «Romhörigkeit» befunden hatten.

Die Grippeepidemie als Nebenthema
In den ersten Erinnerungsbildern stand der Streik ganz im Vordergrund, die Spanische Grippe dagegen wurde nur als Begleiterscheinung behandelt. Sie war insofern bedeutsam, als bei der zum Ordnungsdienst aufgebotenen Truppe über 900 Todesfälle zu beklagen waren, dies allerdings bei insgesamt über 20 000 Grippetoten im gleichen Jahr. Während Angehörige der Opfer die Schuld der Streikleitung gaben, sah die Gegenseite die Verantwortung dafür bei der Armeeleitung, weil diese trotz der Grippegefahr die Truppen aufgeboten hatte. Erst in den 1990er Jahren wurde diese Epidemie aus einer distanzierteren Warte gewürdigt, das heisst ohne enge Fokussierung auf den Streik und als transnationales Phänomen. Christian Sonderegger kam in seiner Zürcher Lizenziatsarbeit 1991 sogar zum Schluss, dass die Zahl der Todesfälle bei den Wehrmännern insofern nichts Ausserordentliches gewesen sei, als es auch bei nicht zum Militärdienst einberufenen jungen Männern ähnlich hohe Sterberaten gegeben habe.

* Der Autor ist ordentlicher Professor für neuere allgemeine Geschichte und Schweizer Geschichte und Leiter des Europa-Instituts an der Universität Basel.
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Re: Vor 90 Jahren begann der Generalstreik in der Schweiz

Beitragvon zuyox am Di Nov 11, 2008 3:25 pm

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