Das Soziale Kapital

Um einen Eindruck zu erhalten, was Firmengründer Gottlieb Duttweiler unter dem «sozialen Kapital» oder der «Brücke» zwischen Produzenten und Konsumenten verstand, lesen Sie nachfolgend Duttweilers Editorial aus der Brückenbauer-Ausgabe vom 30. Juli 1942, im originalen Wortlaut:

«Wochenblatt des sozialen Kapitals steht unter dem Titel unseres Genossenschafts-Organs. Das Kapital unserer Genossenschaften, das Franken- und das geistige Kapital, soll in sozialer Richtung wirken. Es soll stets für die Schwachen - und das ist die grosse Mehrheit - gegen die Starken, die ihre Macht missbrauchen, einstehen: gegen Truste, gegen gewalttätige Verbände, gegen alle Gewaltanwendung von Kapital und Koalition.

Damit stellen wir uns bewusst einer mächtigen wirtschaftlichen und politischen Interessenfront gegenüber. Wer die Macht des Geldes und die politischen Einflüsse kennt, weiss, dass dieses Vorhaben und diese Position mit grossen Gefahren verbunden sind. Doppelt gefährlich in Vollmachtenzeiten, wo nicht Leistung den Preis gewinnt, sondern das Vertrauen und die Gunst wirtschaftlicher und politischer Machtinhaber entscheiden. Wenn die gegenwärtige Zeit besonders gefährlich ist für eine solche Aussenseiterstellung, so ist Umbruchzeit gleichzeitig auch günstige Zeit zur Aussaat neuer Ideen.

Zuerst haben wir uns in anderer Gesellschaftsform 16 Jahre lang durchgekämpft ohne das geringste Abweichen von der Grundlinie des Dienstes an Konsument und Produzent, dann immer mehr auch auf dem Felde der Volkswirtschaft. Unser Franken-Kapital soll wie bisher eingesetzt werden, um das, was wir in Wirtschaft und Politik verkünden, in Handel und Produktion praktisch durchzuführen. Unser Anteilschein-Frankenkapital - etwa 3,6 Millionen - ist verschwindend klein, verglichen mit dem auf den verschiedenen Gebieten tätigen Privatkapital. Diese Schwäche wird aber ausgeglichen durch die mehr als hunderttausend Genossenschafter und weitere Hunderttausende von Sympathisierenden.

Hunderttausend Käufer stellen eine Kaufkraft von 400 oder 500 Millionen Franken dar, gleichzeitig aber auch eine politische Kraft. Wohl soll das soziale Kapital im praktischen Wirtschaftsleben aktiv sein. Unendlich wichtiger aber als das eigene Produktions- und Handelsvolumen ist die Konkurrenzeinwirkung auf das Privatkapital. Das soziale Kapital erhebt laut den Anspruch, dass der Konsument ganz allgemein von Handel und Produktion als frei und mitbestimmend anerkannt wird.

Nur Kapital zwingt Kapital. Die Weh der Geschäfte ist hart. Nur wer selbst Kraft beweist, wird angehört. Nur wer sich in genügender Zahl zusammentut und gemeinsam genügend Geld aufbringt, nur dem wird Stimmrecht und Einfluss zuerkannt. Unsere grosse Aufgabe ist, durch Ideen und Tat so viel Vertrauen zu gewinnen, dass uns auch das Geld der Konsumenten und der Sparer erschlossen wird, um es dort einzusetzen, wo Geldmacht hemmungslos schaltet.

Unser geistiges Kapital. Wir Brückenbauer, wir wollen Wege weisen für eine neue Wirtschaft. Wir wollen Brücken schlagen zwischen Erzeugern und Verbrauchern. Wir wollen alles einsetzen, um ein geistiges Gleichgewicht zwischen dem sozialen und dem privaten Kapital herzustellen. Einstweilen sieht alles nach Kampf aus. Was uns aber die Kraft und den Erfolg in diesem Kampfe sichert, das ist der Glaube an die gute Sache. Im Geistigen ist Glaube gleich Kraft. Und wir glauben daran, dass letzten Endes das soziale Kapital der Genossenschaften sich finden, dass der Graben einst nicht mehr zwischen den Migros-Genossenschaften auf der einen Seite und dem privaten Kapital plus den historischen Genossenschaften auf der anderen verlaufen wird.

Die Genossenschafter-Familien der historischen Konsumgenossenschaften und unsere Genossenschafter-Familien stehen sich nicht feindlich gegenüber. Ebenso wenig das Personal jener dem unsrigen. Langsam aber sicher wird der Wille aller Genossenschafter bei ihren Organen auf den vereinigten Einsatz des materiellen und geistigen Kapitals, des sozialen Kapitals der Genossenschaften drängen. An unseren Genossenschaftern und an ihrem Organ ist es, eine so überzeugende Sprache der Tat und des Wortes zu führen, dass jener Zeitpunkt bald anbreche.

Es gilt, die moralischen Kräfte zu mobilisieren, es gilt, das Verantwortungsbewusstsein der politisch Mächtigen und der Besitzenden zu wecken. Besitz und Macht verpflichten, beides sind Lehen des souveränen Volkes an erfolgreiche Bürger. Wir sind uns bewusst, dass unser Wirken die Privatwirtschaft nicht zerschlagen darf, sondern stärken muss. Kapital ist weder gut noch böse, es ist ein unentbehrliches Instrument der Wirtschaft, aber es darf nicht Meister sein, sondern wirkende, dienende Kraft. Und als solches soll es seinen Lohn empfangen.

Wirtschaft und Politik sind unzertrennlich, doppelt verbunden in Zeiten, da die Bürgerfreiheiten notgedrungen Einschränkungen unterliegen, Staat und Wirtschaft enger verbunden sind. Eine gesunde, verfassungstreue und saubere Politik ist Voraussetzung für die richtige Lösung der Wirtschaftsprobleme. Daher werden wir Brückenbauer auch zu öffentlichen Dingen unser Wort sagen. Auch hier gilt es, das Parteiensystem, das gleichzeitig das demokratische System ist - keine Demokratie ohne Parteien -, nicht zu zerschlagen, sondern durch Leistung auf politischem Gebiet zu besserer Leistung und zur Stellung besserer Männer für die Lösungen unserer grossen sozialen Probleme zu zwingen.

Der Artikel 4 der schweizerischen Bundesverfassung lautet: «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich. Es gibt in der Schweiz keine Untertanenverhältnisse, keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Familien oder Personen.» Dieser fundamentale Artikel, betreffend das Recht und die Würde des Bürgers, muss wieder wahr werden auf wirtschaftlichem Gebiet.

Es muss im Alltag ein Zustand geschaffen werden, der mit dem Wort: «Wir sind ein einzig Volk von Brüdern» in Übereinstimmuni sein wird. Zurück zu eidgenössischen Grundsätzen, hinauf zu einem Christentum im Alltag - das ist die revolutionäre Parole von uns Brückenbauern, das ist die Aufgabe des materiellen und geistigen sozialen Kapitals und ganz besonders unseres Organs: «Wir Brückenbauer».(1)

AMP/30.08.2001
(1) Migros.ch

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